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An den Bundespräsidenten

Alfred Statler verabschiedet sich präsidentiell vom schlechten Gewissen.

In unserer Familie ist es Tradition, die Weihnachtsansprachen anzuschauen. Normalerweise bleibt bei mir absolut nichts hängen. Bei meiner Mutter, die meist das gemeinsame Anschauen der Aufzeichnung durchsetzt, geht es wohl auch eher um das Zusammensein und die weihnachtliche Stimmung und nicht um die Inhalte, insofern hat sie wahrscheinlich die Reden besser verstanden als die, die versuchen, aus den Worten irgendwelche Informationen zu gewinnen.

Dieses Jahr war es allerdings alles etwas anders. Ich erwische mich immer wieder dabei, dass ich über die Rede nachdenke und ich stelle mir immer wieder eine Frage:

Darf ich das auch?

Ich hatte bislang nämlich etwas schlechtes Gewissen, weil ich, obwohl es der TÜV angemahnt hat, die Bremsen an meinem Auto nicht gewechselt habe, dann habe ich auch noch die Sommerreifen drauf. Aber jetzt denke ich, nicht so schlimm.

Wenn ich beispielsweise im Schnee ins Rutschen geraten sollte und dann einigermaßen wuchtig die Kurve verfehle, durch ein paar parkende Autos durchknalle und ein Stück hinter dem Gartenzaun im Rosenbeet von Frau Maier lande, könnte ich dann locker aus dem Auto aussteigen und staatsmännisch erklären:

„Liebe Bürgerinnen und Bürger, was führ eine Fahrt! Dieser Unfall hat uns daran erinnert, wie zerbrechlich das ist, was wir ‚Abendruhe‘ nennen.“

Mein Nachbar Krause würde sich von dieser Weisheit erst nicht beruhigen lassen. Tränen würden ihm in die Augen steigen, wenn er den Schaden an seinem geliebten Auto sähe. „Sie Schwein“, würde er rufen und mich übel beschimpfen, sofort würde aber seine Frau versuchen, ihn zu beruhigen. „Alfred“ würde sie sagen, „beruhige dich“.

Das wäre mein Einsatz, ich ginge zu den beiden hin, nähme sie in den Arm und erklärte:

„Wir haben lange nicht so sehr gespürt, wie wichtig uns Menschen sind, wie sehr wir auf andere angewiesen sind: auf ihre Anwesenheit, ihre Zuneigung, auf das Gespräch mit ihnen. Das ist gut zu wissen.“

Frau Maier, deren Gartentor und Rosen ich bei meinem gescheiterten Manöver mitgenommen hätte, und die kreideweiß vor mir stünde, würde ich sanft einen Besen in die Hand legen und erklären:

„Unser Land ist ein starkes Land, weil so viele Menschen für andere da sind und in der Krise über sich hinauswachsen.“

Herr Krause wäre schon weniger wütend. Das gute Zureden seiner Frau und natürlich meine Worte hätten sehr geholfen, den Blick auf das Wesentliche zu lenken. Er würde sich den Schaden an seinem Auto genauer anschauen und sich dann aber doch fragen, wie er nun zur Arbeit kommen solle.

Auch hier wüsste ich eine Antwort:

„Uns allen haben die Einschränkungen, die wir uns auferlegen mussten, zugesetzt. Dennoch: Vergessen wir bitte neben den vielen dunklen die hellen Seiten dieses Vorfalls nicht. Gerade in diesen Tagen erleben wir doch: Der Unfall treibt uns nicht auseinander. Im Gegenteil, er lässt uns zusammenrücken. Unser Land ist ein starkes Land, weil so viele Menschen für andere da sind und in der Krise über sich hinauswachsen.“

Jetzt würde Herr Krause stolz nicken.

Wenn dann die Polizei käme, fände sie eine Szene von Freundschaft und Solidarität vor. Herr und Frau Krause hielten sich gegenseitig im Arm, Frau Maier hätte schon mit neuem Mut, und von meinem Applaus begleitet, begonnen die Trümmer beiseite zu fegen.

Mein Auto würde abgeschleppt, man beruhigt mich, das sei natürlich kostenfrei, denn: „Unser Staat greift denen unter die Arme, die wirtschaftlich in Not geraten.“ Schon am nächsten Morgen hätte man mir ein neues Auto hingestellt, damit ich schnell wieder auf die Beine komme.

Im Radio höre ich, dass man, um aus der Krise zu kommen, die Leistungsträger unterstützen müsse, unnötige Bürokratie solle unbedingt abgebaut werden.

Richtig so! Das mit dem TÜV war schon immer quatsch.

Alfred Statler

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